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Corona-Krise bietet neue Chance durch Homeoffice-Trend

DEUTSCHLAND. Schlechte „Sozial-Noten“ für Bund und Länder: Das soziale Gewissen des Staates – beim Wohnen versagt es. Das ist das Fazit von zwei Wohnungsbau-Studien, die das Pestel-Institut (Hannover) und das schleswig-holsteinische Bauforschungsinstitut ARGE für zeitgemäßes Bauen in Kiel am Freitag auf einer Pressekonferenz vorgestellt haben. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass Bund und auch Länder entscheidende Fehler in der Wohnungsbaupolitik gemacht haben, die sich jetzt – in der Corona-Krise – umso mehr rächen. Gleichzeitig biete die Corona-Pandemie aber auch eine Chance: die Umwandlung von Büro- in Wohnraum. Durch eine wachsende Akzeptanz vom Homeoffice könnten freiwerdende Büros jetzt – gefördert durch ein staatliches Sonderprogramm – zu Wohnungen umgebaut werden. Hier sehen die Wissenschaftler bis 2025 ein Potential von 235.000 „Ex-Büro-Wohnungen“.

Für diese müsse es allerdings eine strikte Sozialquote geben, fordert das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“, das die Studien in Auftrag gegeben hat. „Es kann nicht sein, dass Büros in attraktiven Innenstadtlagen durchweg zu Luxus-Citylofts umgebaut werden, warnt das Bündnis. In ihm haben sich neben dem Deutschen Mieterbund (DMB), der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) auch zwei Akteure der Bauwirtschaft zusammengeschlossen: die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau (DGfM) als Dachverband der Mauerstein-Industrie und der Deutsche Baustoff-Fachhandel (BDB). Gemeinsam legten sie jetzt – zum Start ins Superwahljahr 2021 – einen „Akutplan 2025 für soziales und bezahlbares Wohnen“ vor – mit fünf zentralen Forderungen, die das Bündnis an die Bundes- und Landespolitik richtet.

670.000 Wohnungen mit Niedrig-Mieten fehlen

„Bezahlbare Wohnungen und Sozialmietwohnungen sind seit Jahren Stiefkinder der Politik. Dadurch hat sich im unteren Preissegment ein gewaltiges Wohnungsdefizit aufgebaut: Es fehlen aktuell bundesweit 670.000 Wohneinheiten (Berlin: 74.000) – fast ausschließlich Wohnungen mit bezahlbarer Miete und Sozialwohnungen“, sagt der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther. Steigende Mieten und Kaufpreise hätten zu einem Wohnungsmarkt geführt, von dem Haushalte mit unteren und auch mittleren Einkommen mehr und mehr abgehängt würden. Viele – darunter gerade auch ältere Menschen, Behinderte, Arbeitslose und Alleinerziehende – hätten längst kaum noch Chancen, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen.

Versprochen ist Wohnungsbauziel, kein Wohnungsgenehmigungsziel

Vor allem die Bundesregierung bekommt damit ein denkbar schlechtes Zeugnis für ihre Wohnungsbaupolitik – und das gut zwei Wochen bevor Bundesbauminister Seehofer im Beisein von Bundeskanzlerin Merkel seine „Bilanz der Wohnraumoffensive“ vorstellen will.

Im Fokus dabei: die Marke von 1,5 Millionen Neubauwohnungen bis zum Herbst 2021. „Die Bundesregierung wird ihr selbst gestecktes Ziel um rund 300.000 Wohnungen verfehlen. Das ist mehr als die Bauleistung eines kompletten Jahres“, sagt Matthias Günther. Da helfe der Bundesregierung ihre bereits eingeschlagene Argumentationsstrategie, auch erteilte Baugenehmigungen mit in die Bilanz einzurechnen, wenig: „Versprochen ist ein Wohnungsbauziel und kein Wohnungsgenehmigungsziel. In genehmigte, aber nicht gebaute Wohnungen kann kein Mensch einziehen“, so Günther. Außerdem sei das, was gebaut wurde, in Preissegmenten entstanden, die gerade in Großstädten und Metropolregionen für einen Großteil der Haushalte nicht mehr bezahlbar seien.

„Drama sozialer Wohnungsbau“

Das Bündnis „Soziales Wohnen“ spricht vom „Drama sozialer Wohnungsbau“. Dabei werde sich die Not der Menschen auf dem Wohnungsmarkt mit anhaltender Corona-Pandemie in den kommenden Monaten weiter verschärfen. Entlassungen, Kurzarbeit, die zum Jobverlust führt, befristete Jobs, die auslaufen: Die schwierige Arbeitsmarktlage und eine hohe Verunsicherung vieler Menschen lasse den Ruf nach mehr Sozialwohnungen lauter werden. Die Corona-Krise führt zu einer neuen „Sozial-Wohnungsnot“, warnt das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“.

Für 1.108 Euro/m² vom Büro zur Wohnung

Dabei könne aber ausgerechnet die Corona-Pandemie auch eine neue Chance fürs Wohnen mit sich bringen: „Wenn sich das Homeoffice im Arbeitsalltag über die Pandemiephase hinweg etabliert, ist der nächste Schritt nur konsequent: die Umwandlung von Büro- in Wohnraum“, sagt Dietmar Walberg.

Und der ARGE-Chef liefert in seiner Studie dazu Zahlen, die deutlich machen, wie finanziell attraktiv die „Office-Offerte“ fürs Wohnen ist: Demnach kostet der Büroumbau zur Wohnung im Schnitt gerade einmal 1.108 Euro pro Quadratmeter. Ein Grund dafür: Büro- und Verwaltungsgebäude bringen bereits das Tragwerk und teilweise auch hohe Standards mit – etwa beim Brandschutz und durch Fahrstuhlanlagen. Zum Vergleich: Bei der Vollmodernisierung eines Altbaus fallen durchschnittlich Kosten von 2.214 Euro pro Quadratmeter an. Und beim Neubau sind es sogar 2.978 Euro. „Damit kostet die Ex-Büro-Wohnung nur ein gutes Drittel von dem, was heute für eine Neubauwohnung bezahlt werden muss – und das oft noch in guter innenstädtischer Lage“, sagt Dietmar Walberg.

Und das Potential, das der Markt biete, sei enorm: In Deutschland gebe es mehr als 350 Millionen Quadratmeter Bürofläche. „Jedes Prozent Bürofläche, das durch Dauer-Homeoffice zu Wohnungen umgenutzt werden kann, macht die Schaffung von rund 50.000 Wohnungen zu je 70 Quadratmetern möglich“, so Walberg.

Der Staat als Kostentreiber

Die Wohnungsbau-Studien erheben dabei schwere Vorwürfe gegen Bund, Länder und Kommunen: Der Staat hat selbst kräftig mit an der Preisspirale gedreht, so der Chef des Bauforschungsinstituts ARGE Kiel. Dietmar Walberg nennt dazu konkrete Zahlen: So haben der Bund und die Länder den Wohnungsneubau durch Auflagen – wie z.B. die Energieeinsparverordnung (EnEV) – in den vergangenen 20 Jahren um 13,6 Prozent – und damit jeden Neubau-Quadratmeter um 301 Euro – teurer gemacht. „Der Bund mit seinen Gesetzen ist damit ein ähnlich intensiver Kostentreiber wie das Bauland: Die Grundstückspreise sind in der gleichen Zeit um 13,8 Prozent gestiegen. Dadurch mussten Bauherren umgelegt auf die Wohnfläche seit 2000 rund 304 Euro pro Quadratmeter mehr bezahlen“, sagt Walberg.

Auch die Kommunen machen nach der ARGE-Untersuchung das Wohnen teurer: 5,8 Prozent sind die Preise durch kommunale Auflagen – wie z.B. die Pflicht von Pkw-Stellplätzen – nach oben gegangen. Jeden Quadratmeter Wohnung hat das damit um 129 Euro teurer gemacht.

Gleichzeitig werfen die Wissenschaftler dem Staat eine „schlechte fiskalische Wohnungsbau-Mathematik“ vor: „Auf der einen Seite wird der bezahlbare und der soziale Wohnungsbau zu wenig gefördert, auf der anderen Seite werden aber enorme Summen durch die Job-Center für die Kosten der Unterkunft, also für die Übernahme der Mieten, ausgegeben“, sagt Pestel-Institutsleiter Günther. Dabei leide der Staat dann sogar selbst unter der Mietenexplosion: In den vergangenen fünf Jahren seien die Mieten für Wohnungen mit einfachem Standard, für die der Staat die Kosten der Unterkunft zahle, im Bundesdurchschnitt um 28 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: Die Verbraucherpreise haben in diesem Zeitraum um lediglich 7,4 Prozent zugelegt.

„Wohnungsbaupolitische Milchmädchenrechnung“

„Wenn der Staat durch eine effektivere Wohnungsbaupolitik für mehr Neubau gesorgt hätte, dann würde es auch mehr preisgünstige Wohnungen auf dem Markt geben. Hierdurch hätte der Staat es schaffen können, die Mieten in ihrer Entwicklung den Verbraucherpreisen anzupassen. In diesem Fall würde er heute jeden Monat 164 Millionen Euro für die Kosten der Unterkunft weniger ausgeben. Aufs Jahr gerechnet sind das knapp 2 Milliarden Euro“, rechnet Matthias Günther vor. Die Brisanz dieser Zahlen: Bund und Länder haben zusammen in den zurückliegenden Jahren den gesamten sozialen Wohnungsbau gerade einmal mit 2,2 Milliarden Euro pro Jahr gefördert. „Das hat viel mit einer ‚wohnungsbaupolitischen Milchmädchenrechnung‘ zu tun, die Bund und Länder da aufmachen“, so Institutschef Günther.

„Akutplan 2025 für soziales und bezahlbares Wohnen“

Es ist der Wink des Wissenschaftlers mit dem Zaunpfahl: Die Förderung von bezahlbarem und sozialem Wohnungsbau lohnt sich. Daraus leitet das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“ seine Forderungen ab und bringt diese in einem „Akutplan 2025 für soziales und bezahlbares Wohnen“ auf den Punkt: So soll es bis 2030 mindestens 2 Millionen Sozialmietwohnungen zusätzlich geben. Zum einen durch den Neubau von 80.000 Sozialwohnungen pro Jahr. Hierfür sollen Bund und Länder mindestens 4,8 Milliarden Euro an Fördermitteln bereitstellen. Darüber hinaus müssten für 1,5 Milliarden Euro noch einmal 75.000 Sozialwohnungen pro Jahr durch Modernisierungsförderungen und durch den Ankauf von Belegrechten geschaffen werden.

Um den Neubau von 60.000 bezahlbaren Wohnungen in Ballungsräumen und Wachstumsregionen zu erreichen, sei ein Förderetat von mehr als 3 Milliarden Euro erforderlich. Ebenso sei es aus der Praxis heraus notwendig, die Abschreibung anzuheben und damit einen wirkungsvollen Steueranreiz zu setzen: Die lineare AfA müsse von derzeit 2 auf 3 Prozent steigen. Beides – den bezahlbaren und den sozialen Wohnungsbau – müssten Kommunen zudem offensiv mit der Bereitstellung von preisgünstigem Bauland unterstützen: 300 Euro pro Quadratmeter – das sei dabei „obere Kaufpreis-Schmerzgrenze“.

Städte sollen „Wohn-Härtefallkommissionen“ schaffen

Ein weiteres Ziel sei es, jede zehnte Sozialwohnung künftig barrierefrei zu machen. Zudem soll sozialer und bezahlbarer Wohnraum gezielter als bisher Behinderten angeboten werden. Ebenso Menschen, die bislang schlechte Chancen haben, auf dem Wohnungsmarkt Fuß zu fassen.

Um dies zu garantieren, sollen Städte und Gemeinden „Wohn-Härtefallkommissionen“ einrichten. Diese, so fordert das Bündnis, müssten dann über ein 10-Prozent-Kontingent aller Sozialwohnungen frei verfügen können, die vor Ort zu vergeben sind.

Sanierungs-Jahrzehnt: 2 Mio. Senioren-Wohnungen zusätzlich bis 2030

Mit Blick auf barrierearme Wohnungen spricht das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“ von einem Dilemma: Lediglich rund eine Million Wohnungen seien bundesweit barrierearm. „Gleichzeitig leben in Deutschland aber acht Millionen Menschen mit Behinderungen, davon mehr als die Hälfte Senioren. Bis 2030 wird die Zahl der Senioren um mehr als 3,5 Millionen wachsen. Und auch ein Großteil dieser Senioren wird für ein selbstbestimmtes Wohnen auf eine barrierearme oder sogar barrierefreie Wohnung angewiesen sein. Ansonsten zwingen Rollator oder Rollstuhl sie am Ende dazu, ihre Wohnung kaum oder nicht mehr verlassen zu können“, sagt Matthias Günther vom Pestel-Institut.

Diese Zahlen machten deutlich, wie unvorbereitet Deutschland auf die enorm große Bevölkerungsgruppe der Menschen, die mit einer Mobilitätseinschränkung leben müssen, sei. „Die Wohnungsbaupolitik hat sich davon quasi verabschiedet, diesen Menschen ein selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen. Denn pro Jahr wird gerade einmal der barrierefreie oder barrierearme Umbau von 70.000 Wohnungen staatlich gefördert. Das ist eine Farce. Notwendig wäre vielmehr der altersgerechte und staatlich geförderte Umbau von 200.000 Wohnungen pro Jahr. Bis 2030 muss es gelingen, die Zahl der barrierearmen Wohnungen im Gebäudebestand auf mindestens 3 Millionen zu steigern. Das bedeutet, dass wir in ein Jahrzehnt des energieeffizienten und altersgerechten Sanierens gehen müssen, das bundesweit am Ende 2 Millionen zusätzliche Senioren-Wohnungen bringt“, so Günther.

PR

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